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ich der Meinung bin, dass es in jeder sächsischen und ostdeutschen Kleinstadt Menschen, Initiativen und Vereine braucht, die auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen ...

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23. August 2006

Offener Brief zur Benennung einer Straße nach Dr. Graebert

In einem offenen Brief fordern das NDK und einige engagierte Bürger die Stadtverwaltung auf, einem kürzlich in der LVZ veröffentlichten Vorschlag zur Benennung einer Straße nach dem ehemaligen Wurzener Oberbürgermeister Dr. Armin Graebert nicht nachzukommen. Den LVZ-Artikel finden Sie hier. Nachfolgend der Wortlaut des offenen Briefes: Sehr geehrter Herr Dr. Schmidt, sehr geehrter Herr Lehne, sehr geehrter Herr Gey, verwundert haben wir die Diskussion um die Benennung einer Straße nach dem ehemaligen Wurzener Oberbürgermeister Dr. Armin Graebert zur Kenntnis genommen. Die neuerliche Debatte zeigt einmal mehr den weit verbreiteten geschichtsvergessenen Umgang mit der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit. Dr. Graebert war in seiner Eigenschaft als Oberbürgermeister nicht bloß einfaches Parteimitglied der NSDAP, sondern Funktionsträger. Er war dies zudem in einer Zeit (1938 – 1945), in der die Vertreibungs- und Vernichtungsmaßnahmen insbesondere gegen die jüdischen Bürgerinnen und Bürger aber auch andere Gruppen, die nicht in das Weltbild NS-Deutschlands passten, ihren Höhepunkt erreichten. Die Reichspogromnacht, die erzwungene Emigration jüdischer Bürgerinnen und Bürger, die verbunden war mit der nahezu vollständigen finanziellen Ausplünderung sowie die Ermordung von Jüdinnen und Juden sind Ereignisse, die nicht nur irgendwo stattgefunden haben, sondern ganz konkret auch hier vor Ort in Wurzen. Es ist hinreichend wissenschaftlich erforscht, dass diese menschverachtenden Taten maßgeblich von den kommunalen Behörden und damit den lokalen Strukturen der NSDAP und anderer NS-Organisationen umgesetzt wurden. Ein gehässiger Artikel einer Wurzener Zeitung vom 11. November 1938, in dem triumphierend über die Zerstörung der Geschäfte der Wurzener jüdischen Familien Lichtenstein, Schenkalowski und Helfft berichtet wird, ist ein konkreter Beleg für die lokalen Auswirkungen der Reichspogromnacht. In „Schutzhaft“ – so die zynische Bezeichnung im Nazijargon für die willkürlichen Verhaftungen von Jüdinnen und Juden im Zuge der Reichspogromnacht – genommen wurden die Familien Goldschmidt, Luchtenstein, Helfft und Seligmann. Während es Angehörigen der Familien Goldschmidt und Seligmann gelang anschließend aus Deutschland zu emigrieren, wurde Familie Luchtenstein im Juli 1942 deportiert und ermordet. Daraus ergibt sich zwar noch kein Beweis für die individuelle Schuld von Dr. Graebert, sollte aber Anlass genug sein, sich mit der Rolle Graeberts auseinander zu setzen und zu prüfen ob und in welcher Form er Verantwortung trägt für die Repressions- und daraus resultierenden Vernichtungsmaßnahmen in Wurzen. Eine Debatte, die ausschließlich auf die „Retter“-Rolle Graeberts verweist, ist verkürzt und historisch nicht zu halten. Die Stilisierung Graeberts als „Retter“ Wurzens ist auch deshalb verkürzt, weil dabei die wichtige Rolle der Antifaschisten Kurt Krause und Otto Schunke bei der kampflosen Übergabe an die US-Amerikanische Armee unterschlagen wird. Im Gegensatz zu Graebert haben sie sich – soweit bekannt - nicht mit dem Nationalsozialismus arrangiert. Nicht zu unterschätzen ist auch die Wirkung, die aus der Ehrung eines ehemaligen NSDAP-Funktionärs resultieren könnte. Es ist Wasser auf die Mühlen alter und neuer Nazis. In einer Stadt wie Wurzen, in der es nach wie vor vielen Leuten schwer fällt, die aktuelle Dimension des Rechtsextremismus zuzugeben und eindeutige und glaubwürdige Positionierungen der Spitzen der Stadtverwaltung gegen Rechtsextremismus noch immer auf sich warten lassen, bekommt die Debatte einen besonders üblen Beigeschmack. Wir fordern die Stadtverwaltung daher auf, Vorschlägen zur Benennung einer Straße nach Dr. Graebert nicht nach zu kommen. Stattdessen wäre es angemessen und an der Zeit, den Opfern einen Teil der Würde wieder zu geben, die ihnen zwischen 1933 und 1945 und später durch die weit verbreitete Verdrängung deutscher Geschichte geraubt wurde. Die Benennung von Straßen z. B. nach den genannten Familien Goldschmidt, Luchtenstein, Helfft und Seligmann wäre ein Schritt in diese Richtung. Mit freundlichen Grüßen Erstunterzeichner: Melanie Haller (Geschäftsführerin des NDK., Wurzen) Ingo Stange (AMAL e.V., Wurzen) Jens Kretzschmar (Stadtrat der Linkspartei, Wurzen) Stephan Meister (Organisationsberater, Wurzen) Jamil Jawabra (AMAL e.V., Wurzen) Miro Jennerjahn (Projektkoordinator NDK, Wurzen) Frank Schubert (Vorstandsmitglied des NDK, Wurzen) Bernd Marks (NDK-Mitglied, Wurzen) Doreen Janke (Vorstandsmitglied des NDK, Wurzen) Weitere Unterzeichner: Frank Preßon (Azubi zum Handelsassistenten, Böhlitz) Andreas Klaus (Betriebswirtschaftler, Kamenz, ehemaliger Bürger der Stadt Wurzen, dem das Wohl seiner Heimatstadt am Herzen liegt) Olaf Müller (Azubi Medienoperator, Berlin) Anja Wiede (Studentin, Wurzen) Julia Pfeil (Studentin, Leipzig) Thomas Martin (Azubi, Wurzen) Ehepaar Grimm (Rentner, Wurzen)

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